Gleichgewicht

Adam Zagajewski (21.6.1945 – 21.3.2021)

Ich schaute von oben auf die arktische Landschaft
und dachte an nichts, an das süße Nichts.
Ich sah die weißen Markisen der Wolken, endlose
Weiten, wo man vergeblich Wolfsspuren sucht.

Ich dachte an dich und daran, dass die Leere
nur eines versprechen kann: Fülle –
und dass eine gewisse Art von Schneewüste
birst vor übermäßigem Glück.

Als wir zur Landung ansetzten,
zeigte sich zwischen den Wolken die wehrlose Erde,
lächerliche, von ihren Besitzern vergessene Gärten,
bleiches Gras, gequält von Wetter und Wind.

Ich legte mein Buch weg und spürte für einen Moment
vollkommenes Gleichgewicht zwischen Wachen und Traum.
Doch als das Flugzeug den Boden berührte und dann
eifrig im Labyrinth des Flughafens kreiste,

wusste ich wieder nichts. Die Dunkelheit
des täglichen Irrens war zurück, die süße Dunkelheit des Tages,
die Dunkelheit der Stimme, die misst und zählt,
erinnert und vergisst.


(aus dem Gedichtband „Unsichtbare Hand“, S. 47, übersetzt von Renate Schmidgall,
Edition Lyrik Kabinett bei Hanser 2012)

.

Adam lehrte in Houston. Als wir ihn dort besuchten, wollte er uns unbedingt eine bestimmte Stelle am Golf von Mexiko zeigen, weil wir dann erst Amerika verstehen – und weil wir dort Delphine sehen würden. Nach einer langen Fahrt durch dicken Nebel kamen wir an einen unwirtlichen Ort am Strand, an dem ein einziger Baum stand, in dem sich ein findiger Mensch eine Baumhausbar eingerichtet hatte, Name: World‘s End. Von Delphinen war nichts zu sehen gewesen. Später, zurück in Houston, gingen wir in ein Konzert: Schubert. Zwischen World‘s End und Schubert hatte er sich ein Leben eingerichtet.“
(aus dem Nachruf von Michael Krüger in der WELT vom 22.3.21)

„In seinem Essay Verteidigung der Leidenschaft (2008) ist sein ästhetisches Credo formuliert: Eine Kultur, die den Sinn für das ‚Sacrum‘, das Heilige verliere, heißt es darin, habe ihr Fundament schon preisgegeben. In seinem Erinnerungsbuch Ich schwebe über Krakau (2000) beschreibt er, wie ihm das genaue Betrachten von Kirchenfenstern in Krakau, Paris und anderswo die Augen geöffnet hat für Phänomene der Kunst. Die Begegnung mit diesen Kirchenfenstern wurde zur prägenden ästhetischen Erfahrung. Seine katholischen Neigungen haben dem Weltpoeten, der seit Jahren auf der Liste der Anwärter für den Literaturnobelpreis stand, nicht nur Bewunderung eingetragen. ‚Die Geschichte, die meistens bitteren Geschmack hat, ist wieder da‘, so beschloss Zagajewski seine Vorstellungsrede bei der Darmstädter Akademie: ‚Und noch eines: Ich bin nicht mehr so sicher, dass mein Leben wirklich mir gehört.‘ Eine zutiefst pessimistische Bilanz.
Am gestrigen Sonntagabend ist Adam Zagajewski, der skeptische Europäer und bedeutendste Dichter Polens, im Alter von 75 Jahren in Krakau gestorben.
(aus dem Nachruf von Michael Braun auf ZEITonline vom 22.3.21)